Komplexitätsmanagement steht heute überall auf der Tagesordnung. Im Zuge der Elektrifizierung, stärkerer werdender Individualisierung und dem Streben nach Nischenmärkten nehmen die Faktoren, die das wirtschaftliche Handeln beeinflussen, zu. Immer schneller verändern sich die Anforderungen von Anspruchsgruppen an die Unternehmen und deren Produkte.
Neben der zunehmenden Komplexität des Wettbewerbsumfeldes (fortschreitender Verlust an Differenzierung, erhöhtes Risiko an Diskontinuitäten, weltweite Überkapazitäten etc.) ist eine unkontrollierte Entwicklung der Unternehmung eine Ursache für zunehmende Komplexität. Das Komplexitätsmanagement im Sinne der Gestaltung und Steuerung der Vielfalt und der Veränderungen im Unternehmen wird zum Kern der Managementaufgabe. Automobilhersteller übertragen zunehmend diese Aufgabe an ihre Systemlieferanten. Unklar ist, ob so derzeit das maximale Potential von beiden Partnern erreicht wird.
Es wird vornehmlich das Ziel verfolgt, die Kundenwünsche exakt zu treffen bei gleichzeitig hoher Wirtschaftlichkeit durch die Beherrschung der Vielfalt in allen Wertschöpfungsstufen. Doch genau hier bremsen sich Automobilhersteller und Systemzulieferer gegenseitig aus.
Die Beherrschung der Komplexität ist wichtiger denn je und es sind zumindest bei den durch uns begleiteten Unternehmen deutliche Fortschritte in der Planung und Beherrschung der Komplexität zu erkennen. Jedoch wird das Komplexitätsmanagement bisher überwiegend nur in Einzeldisziplinen realisiert.
Bisher erzeugen nur wenige Automobilhersteller durch Systemanbindung ein hohes Maß an Transparenz. Toolbasiert werden Variantenanalysen und Komplexitätsprognosen erzeugt. Zu den durch Merkmale und Ausprägungen beschriebenen Varianten werden unter Berücksichtigung der Kombinatorik Strukturbäume aufgebaut, die mit Verbauraten hinterlegt werden. Die so geschaffene Transparenz erzeugt zumindest eine erste Übersicht über die vorhandene und auch – wenn frühzeitig im Produktentwicklungsprozess aufgezeigt – die geplante externe Varianz. Nicht zuletzt werden diese Strukturbäume auch von den Systemlieferanten gefordert (Lastenheftphase), jedoch wird diese Anforderung nur selten in dieser Form umgesetzt. An dieser Stelle sei bemerkt, dass unser Complexity Manager® eben diese Zusammenhänge darstellt und in der Transparenz darüber hinausgeht. Hohe Potentiale bei der Reduzierung der Varianz werden durch die so geschaffene Transparenz ausgewiesen [1]. Der OEM spart, wer zahlt?
Systemlieferanten haben auch schon lange die Notwendigkeit der Komplexitätsbeherrschung erkannt und viele Fortschritte erreicht. Doch allzu häufig werden die externen Varianten (Abb. 1) seitens Automobilhersteller vorgegeben und der Lieferant kann nur wenig, wenn überhaupt Einfluss nehmen. Hier müssen beide ein neues Zusammenarbeiten leben.
Die Modellpaletten werden immer weiter aufgefächert, exemplarische Darstellung eines führenden OEMs
Erfolgreiche Unternehmen begegnen der steigenden Komplexität durch die Fokussierung auf Nischenmärkte und die Konzentration auf Schlüsselkunden. Ein absolutes Muss sind dazu regelmäßige Kundenanalysen durch möglichst direkte Einbindung der Schlüsselkunden in die Anforderungsdefinition für neue Produkte sowie regelmäßige Wettbewerbsanalysen.
Fokussierung der Varianz auf das wirklich Notwendige und wirtschaftlich Erfolgreiche. So bleiben dem Automobilhersteller und dem Automobilzulieferer mehr Zeit, Ressourcen und Geld für Technologie-Know-how, Innovationsfähigkeit und Elektromobilität. Für einen noch ungewiss langen Zeitraum werden herkömmliche Verbrenner und alternative Antriebe zeitgleich angeboten werden. Die Varianz explodiert, falls diese nicht gesteuert und beherrscht wird.
Systemlieferanten führen mittlerweile regelmäßig eine strategische Produktprogrammplanung durch, um die Kundenwünsche möglichst exakt zu treffen und einen unkontrollierten Anstieg der Produktvarianten zu verhindern. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Nischenmärkten und Schlüsselkunden zeichnen sich erfolgreiche Unternehmen dadurch aus, dass sie konsequent Marktsegmentierung betreiben und gezielter ihr Produktprogramm auf ihre Kunden ausrichten und planen. Die wichtigsten Methoden zur strategischen Produktplanung (Roadmapping, Variantenplanung, Szenariotechnik und Product Life Cycle Management) sind den Unternehmen zwar bekannt, werden allerdings noch unzureichend genutzt.
Die Potenziale, die im richtigen Einsatz dieser Methoden stecken, sind hoch und künftig stärker auszuschöpfen.
Zur Beherrschung der Produktkomplexität gibt es eine Vielzahl von Instrumenten und Prinzipien. Die heute am weitesten verbreiteten Ansätze sind Standardisierung und Modularisierung. Plattformkonzepte, Variantenfilter, Gleichteile-Management und Customizing-Ansätze sind noch wenig in der Praxis der Systemlieferanten etabliert. Auch darin liegen insbesondere für Modul- und Systemlieferanten weitere Potenziale. Wichtig für ein erfolgreiches Variantenmanagement ist neben dem richtigen Me-thodeneinsatz insbesondere proaktives Handeln.
Wir unterscheiden bei der Varianz die externe Varianz, das ist die Varianz, die vom Kunden wahrgenommen und honoriert wird. Dem gegenüber stellen wir die interne Varianz. Diese beschreibt, mit welchen Baugruppen und Bauteilen, mit welcher Software und welchen Konzepten die Varianz in der Wertschöpfungskette erzeugt wird. Hier liegt auch das zukünftige Potential. Nur die Beherrschung der externen und gleichzeitig der internen Varianz verspricht maximalen Nutzen; sowohl für den Automobilhersteller als auch für den Systemlieferanten. Und hier wird vielfach das Potential im Zusammenspiel nicht genutzt.
Die externe Varianz wird durch den Automobilhersteller nach entsprechender Analyse und Systematik vorgegeben. Diese bildet die Basis. Die Umsetzung bei der Bildung der internen Varianz sollte im Zusammenspiel der Kompetenzträger erfolgen. Was nützt ein Baukasten, der seitens eines Systemlieferanten erarbeitet wird, wenn die Vielzahl seiner Kunden, also die Vielzahl der unterschiedlichen Automobilhersteller, der Funktionserfüllung einen zu prägnanten eigenen Stempel aufzwingen. So entstehen immer wieder Abwandlungen der Produkte, die zum Standardisierungsverlust und zu Kosten steigerungen führen können. Fast gleich ist eben nicht gleich. Baukästen haben nur dann eine möglichst große Potentialfähigkeit, wenn zumindest die aufwands- und kostenintensiven Komponenten Kommunalitäten aufweisen und dadurch Skaleneffekte in Entwicklung, Produktion oder Einkauf realisiert werden können. Zur Analyse und Auflösung dieses Konfliktes haben wir u. a. das Schalenmodell (Abb. 2) in unseren Projekten etabliert.
Die Flexibilität und Stabilität der Module und Komponenten werden im Schalenmodell verdeutlicht
Zur Definition von Flexibilität und Stabilität der Module und Komponenten von modularen Architekturen werden diese in einem Schalenmodell kategorisiert. Es werden Regeln bezüglich Standardisierung, Kommunalitäten und Flexibilität auf Komponenten- und Modulniveau abgeleitet. Entsprechend werden einzelne Komponenten auf unterschiedlichen Schalenebenen eingeordnet. Je weiter innen in der Schale, desto aufwandsintensiver werden Änderungen. Einordnung ins Schalenmodell, Transparenz und Verständnis über die kostenseitigen Auswirkungen dieser Abwandlungen und ein gemeinsamer Wille zur Optimierung bilden eine starke Diskussionsbasis. Potentiale müssen auf beiden Seiten gehoben, aber auch realisierbar gemacht werden.
Grundvoraussetzung für die erforderliche Kostentransparenz ist es, die durch Varianz entstehenden Kosten den jeweiligen Varianten verursachungsgerecht zuzuordnen. Das heißt, jeder Ebene des Schalen-modells sind bestimmte interne Aufwände zuzuordnen. Die hierzu notwendige Kostentransparenz kann man über eine prozessorientierte Kostenrechnung erreichen. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollten dann gezielt z. B. zur Angebotskalkulation, Entscheidungsfindung bezüglich der optimalen internen Varianz und in der Produktentwicklung, zur Lösungsauswahl etc. genutzt werden. Wenn auch nicht immer alle Kosteninformationen an dritte weitergegeben werden können, sollte zumindest jeder seine Komplexitätskosten vom Wert her kennen.
Viele Unternehmen sind sich ihrer Variantenvielfalt bzw. Komplexität bewusst. Bei den meisten weist zumindest ihr Bauchgefühl enorme Potentiale aus, einige Unternehmen haben die mit der Komplexität verbundenen Probleme identifiziert und kostenseitig bewertbar gemacht. Sowohl OEMs als auch Systemlieferanten haben eine zumindest grobe Übersicht über die vorhandene Vielfalt. Es zeigt sich aber in den meisten Fällen ein noch zu geringes Zusammenspiel, man bremst sich gegenseitig aus. Aber vor dem Hintergrund der zunehmenden Variantenproblematik und Komplexität (neue Märkte, neue Technolo-gien, neue Fahrzeugkonzepte, Elektromobilität) besteht daher akuter Handlungsbedarf für ganzheitliche Lösungen.
Die Automobil- und Zulieferindustrie befindet sich in einer technologischen Revolution. Das Thema Komplexität löst sich dadurch nicht von selbst.
Legende: [1] Vortrag Audi, Smart Variant Konferenz, Berlin im Juni 2016
Norbert Große Entrup
norbert.grosse.entrup@schuh-group.com