Um der durch eine steigende Variantenanzahl getriebenen Komplexität gerecht zu werden, setzen viele Unternehmen auf die Einführung von Produktbaukästen. Dabei werden die funktionellen Anforderungen des Marktes von den internen technischen Lösungen entkoppelt und Schnittstellen und Baugruppen weitestgehend standardisiert. Aber reicht dieses Vorgehen aus, um größtmöglichen Nutzen für ein Unternehmen zu generieren?

In unseren Projekten beobachten wir, wie viele Unternehmen sich bei der Architekturerarbeitung stark auf die Abstimmung der Marktanforderungen aus Sicht des Produktmanagements mit der Entwicklung fokussieren. Die Produktgestaltung hat jedoch auch unmittelbare Auswirkungen auf andere Fachbereiche, die selten in Betracht gezogen werden. Zahlreiche unserer Studien und Case Studies zeigen, dass bei vielen Unternehmen nach wie vor Optimierungsbedarf an den Schnittstellen zwischen Entwicklung/ Produktion/ Beschaffung/ Qualitätswesen besteht: Kompliziert herzustellende Halbzeuge, zahlreiche Prozessvarianten der gleichen Komponente sowie die fehlende Berücksichtigung von Werksspezifika sind nur einige Beispiele, die in den betroffenen Unternehmen zu hohen Kosten, Qualitätsverlusten und langen Lieferzeiten führen. Eine immer schlechter werdende Wettbewerbssituation ist die logische Konsequenz für die Unternehmen.

Integrale Produktarchitekturen als 360°-Standards

An dieser Stelle setzen die integralen Produktarchitekturen an. Diese stellen einen methodischen Ansatz dar, die Entwicklungsaktivitäten vor, während und nach dem Produktentwicklungsprozess zu koordinieren, um Synergieeffekte zu nutzen. Hierfür steht nicht das Einzelprodukt im Fokus, sondern das gesamte Produktportfolio eines Unternehmens. Ziel ist es, für jede Komponente einer modularen Produktarchitektur entsprechende Gestaltungsanforderungen auch aus der gesamten Wertschöpfungskette zu berücksichtigen, um eine wirtschaftliche Fertigung zu ermöglichen, wobei Varianten zulässig sind. Neue Produkte bedienen sich zwingend aus den standardisierten sogenannten Prozess- und Produktionsbaukästen so dass Supply-Chain-Potenziale u. a. durch einen hohen Wiederverwendungsgrad sichergestellt werden. Die Nichtverwendung einer integralen Produktarchitektur während der Entwicklungsarbeit muss über einen entsprechenden Eskalationsprozess genehmigt werden. Sie zielen somit auf die Schaffung von produkt- und werksübergreifenden Kommunalitäten in der gesamten Wertschöpfungskette und erzeugen gerade in der Großserienfertigung enormen Nutzen.

Prozessbaukästen – prozessgetriebene Produktanpassungen

Prozessbaukästen enthalten prozessseitige Anforderungen an die Produktgestaltung, um einen reibungslosen und kostengünstigen Produktionsprozess zu gewährleisten. Dabei soll die jeweilige Komponente nicht vollständig vereinheitlicht werden, sondern lediglich die für die Produktion relevanten Kernmerkmale, u. a. die Prozessreihenfolge, das Ausrichtungskonzept, Verbindungstechnologien beziehungsweise Befestigungselemente oder die zu verwendenden Betriebsmittel. Beispielsweise wurde während der Prozessanalyse in einem unserer Projekte bei einem Premium-Automobilhersteller festgestellt, dass eine bestimmte Komponente in Abhängigkeit der jeweiligen Trägerbaugruppe mit insgesamt 17 verschiedenen Verbindungselementen befestigt wurde. Durch konkrete Anforderungen an die geometrische Gestaltung der Trägerbaugruppe hinsichtlich Blechdickenverlauf sowie einer definierten Auflagefläche der Verbindungselemente konnte der Montageprozess über alle Baugruppen hinweg standardisiert und die Zahl der Verbindungselemente um 16 auf exakt eine Sachnummer reduziert werden.

Abb. 1: Lokale Optimierung der Produktarchitektur innerhalb der Entwicklung mit sich wiederholenden Abstimmungsthemen

Die Quellen für prozessseitige Anforderungen sind vielfältig. Zum einen basieren sie auf den Anregungen erfahrener Mitarbeiter. Zum anderen können sie gezielt durch „Lessons Learned“-Workshops generiert werden. Ganz im Sinne des Lean Managements kann durch sogenannte „Gemba Walks“ die Sensibilität von Produktentwicklern gegenüber den Notwendigkeiten der Produktion gefördert werden, indem die Probleme direkt in der Fertigung begutachtet werden. Darüber hinaus können Verbesserungspotenziale durch Benchmarking-Analysen mit der direkten Konkurrenz gewonnen werden. Auf diese Weise wird der beste Prozess innerhalb der Industrie identifiziert und kann als Standard im eigenen Unternehmen etabliert werden. Letztlich dienen auch Kundenreklamationen als Quelle für Anforderungen an eine optimierte Produktgestaltung. Hierfür ist es notwendig, dass eine durchgängige Prozesskette vom Service zurück in die Entwicklung gewährleistet ist.

Produktionsbaukästen – Der digitale Produktionsschatten

Neben den prozessualen Vorgaben sollten aus der Produktion außerdem die anlagentechnischen Ressourcen erfasst werden. Dies erstreckt sich über die verfügbaren Fertigungsverfahren (beispielsweise unterschiedliche Trennverfahren), das Fabrikdesign der jeweiligen Werke, die Vielfalt an Werkzeugen bis hin zu den Arbeitsbreiten von Pressen oder den maximalen Hüllkurven von Schweißrobotern. Unter den Strukturen werden des Weiteren sowohl aufbauorganisatorische Aspekte betrachtet, als auch die in Zeiten von Industrie 4.0 immer wichtigeren IT-, Daten- und Steuerungssysteme in der Produktion behandelt. In Summe geht es also im Idealfall um nicht weniger als die vollständige Erfassung
des Produktionssystems als digitaler Schatten der Produktion. Deutsche Automotive-OEMs gehen z. B. daher dazu über sämtliche Produktionsstätten bis auf den letzten Kubikmillimeter mit Laserscannern dreidimensional zu vermessen.


Die auf dieser Basis erfolgende Formulierung einheitlicher Anforderungen für verschiedene Produkte ermöglicht maximale Standardisierung bei maximaler Flexibilisierung der Prozesse. Der jeweilige Flexibilitätsgrad eines Standards ist anwendungsbeziehungsweise länderspezifisch definiert. „One size fits all“ oder „totale Gleichmacherei“ ist hier nicht die Lösung. Den Beitrag aus der Produktion liefert bei einem Kunden aus der Konsumgüterindustrie beispielsweise ein flexibler Produktionsbaukasten. Er ist das entsprechende Pendant zum Baukasten aus der Produktentwicklung und erlaubt eine modulare Auswahl der Fertigungsabläufe. Werden diese Anforderungen im Produkt berücksichtigt, lässt sich die entstehende Kostendegression sowohl in direkten Produktionsbereichen, als auch in der Beschaffung von Maschinen und Produktionseinrichtungen realisieren. Zu den weiterhin nutzbaren Einspareffekten gehört die Reduktion von Planungsaufwänden, die ebenfalls durch die Nutzung von Kommunalitäten über verschiedene Projektzyklen realisiert werden. Die Einsparungen werden durch geringe Investitionskosten, geringere Aufwände bei Produktneuanläufen, niedrigere Instandhaltungskosten sowie durch die Senkung von Nonkonformitätskosten realisiert. Mit Hilfe eines vollständig digitalisierten Produktionsnetzwerks können die Daten in einer nächsten Ausbaustufe dann verwendet werden, um schon im Entwicklungsprozess die Auswirkungen von Bauteiländerungen in der Produktion vorherzusagen und damit spezifischere Abwägungen bei der Konstruktion der Fahrzeuge zu tätigen.

Abb. 2: Integrale Produktarchitekturen beziehen die gesamte Supply-Chain in die Architekturentwicklung ein

Potenziale in der Supply Chain heben

Große Potenziale für Produktoptimierungen sind ebenfalls durch Einbezug der Lieferanten zu finden: Des Öfteren werden in unseren Projekten zur Optimierung der Supply-Chain von einem Hersteller Anforderungen genannt, welche bisweilen gar nicht den realen Anforderungen der Endkunden entsprechen. Gleichzeitig sind Hersteller in Unkenntnis über die Randbedingungen der Lieferanten im Hinblick auf dessen Ressourcen und Strukturen. Die Konsequenz daraus sind überzogene Anforderungen, welche ggf. nur unter großen Aufwänden von den jeweiligen Lieferanten realisiert werden können und so die Kosten für die bestellten Bauteile in die Höhe treiben. Als ursächlich ist der mangelhafte Austausch entlang der Supply-Chain zu sehen. Wir weisen daher unsere Kunden immer wieder auf die liegengelassenen Potenziale in der Abstimmung mit ihren Lieferanten hin.

Sofern es zuvor noch zu keinem ausgewogenen Austausch zwischen den beiden Partnern gekommen ist, empfehlen wir in einem ersten Schritt eine Abstimmung auf Augenhöhe. Dabei soll erörtert werden welche Maßnahmen hilfreich wären, um beispielsweise bestimmte Bauteile kostengünstiger bei gleichbleibender oder höherer Qualität zu produzieren. So können schon leichte Anpassungen an den Vorgaben schnell große Effekte realisieren. Gleichzeitig führen diese Diskussionen immer wieder zur Erkenntnis, dass die genauen Nutzungsanforderungen der Endkunden nicht im Detail bekannt sind. So muss sich dann auch ein OEM eingestehen, dass er noch Nachholbedarf in der Analyse der Use Cases (Beschreibung der Anwendung des Produkt- oder Leistungssystems aus Sicht des Anwenders) hat. In einem anderen Projekt bei einem Maschinen- und Anlagenbauer war auch genau dies der Fall: Trocknungsanlagen wurden massiv überdimensioniert, weil das Prozesswissen um das Trocknungsverfahren dem Hersteller nicht transparent genug war. Nach diversen Abstimmungen zwischen Lieferant und OEM konnten so für die Baugruppe der Trocknungsanlagen 40 % der Kosten eingespart werden.

Dieser Austausch sollte mittelfristig institutionalisiert und die Lieferkette regelmäßig eingebunden werden. Ähnlich wie bei den Produktbaukästen gilt es die vorhandenen Quellen mit Erfahrungen anzuzapfen, um die Anforderungen an das Produkt zu optimieren. „Lessons Learned“-Workshops nach Produktionsanläufen, Qualitätsmeldungen in der laufenden Fertigung und eine Produktionsflexibilitätsmatrix je Lieferant zur Erfassung der Ressourcen und Kapazitäten sollten regelmäßig zwischen Lieferanten und OEMs geteilt werden.

Anforderungsmanagement – Nutzung moderner Tools

Mit der Vielzahl an eingebunden Bereichen aus denen sich weitere Anforderungen ergeben können, wird klar, dass die Anforderungen sinnvoll gemanagt werden müssen. Gerade bei montageintensiven Produkten, wie z. B. Haushaltsgeräten, müssen einzelne Anforderungen schon bei den Herstellern über eine Vielzahl an Fachbereichen koordiniert werden. Softwarebasiertes Anforderungsmanagement, wie z. B. „Doors“, wird daher verbreitet eingesetzt. Allerdings beseitigen diese Tools nicht die schnittstellenintensiven Abstimmungsaufwände. Oftmals ist nicht ganz klar, ob und wenn ja, welche Auswirkungen eine Anforderung eines Fachbereichs auf einen anderen Fachbereich haben. Ebenso wird nicht transparent genug dargestellt, welche Anforderungen untereinander Zielkonflikte verursachen. Hier bedarf es einer tiefgreifenden Einbindung in das Model Based Systems Engineering, um Abhängigkeiten zwischen Anforderungen sichtbar zu machen und unmittelbar die Auswirkungen auf andere Systeme zu erkennen. Auf dieser Basis lässt sich so mittels künstlicher Intelligenz zukünftig besser eine Vorhersage treffen, welche Schnittstellenpartner sich tatsächlich abstimmen müssen und welche nicht.

Zusammenfassung

Durch die Erweiterung und Berücksichtigung des Standardisierungsgedankens auf andere Unternehmensbereiche und die Supply-Chain mit dem Fokus auf das Gesamtoptimum, können große Optimierungspotenziale erschlossen werden. Diese liegen dabei nicht nur im Bereich der Produktkosten, sondern erlauben außerdem eine signifikante Verbesserung der Prozesse und somit der indirekten Kostenanteile. Die Vorteile, die sich durch den Einsatz von integralen Produktarchitekturen ergeben, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Zusätzliches Heben von Bauteilkommunalitäten entlang der gesamten Supply-Chain durch Einbeziehen von Produktion und Lieferanten
  • Reduzierung von Prozesszeiten durch die unternehmensübergreifende Implementierung von Benchmark-Prozessen als Standards
  • Reduzierung von Nacharbeits- und Gewährleistungskosten durch oft erprobte, optimierte und somit robuste Prozesse
  • Reduzierung von Investitionen durch eine hohe Anlagenauslastung sowie der Wiederverwendung bestehender Anlagen und Betriebsmittel
  • Steigerung der Produktqualität durch die Etablierung einer gelebten „Lernenden Organisation“

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